Der Darm – Wie das Bauchhirn den Kopf lenkt

Unser Verdauungsorgan hat viel mehr zu sagen, als wir ihm lange Zeit zugetraut haben. Der Darm und die darin angesiedelten Mikroorganismen beeinflussen nicht nur unser Wohlbefinden, sondern ebenso unsere Gefühle und unser Verhalten. Auch bei Erkrankungen scheinen sie die Finger im Spiel zu haben.

Beitrag im AQTUELL 2.22, S. 4/5
Kundenmagazin der Krankenversicherung Aquilana


Wohlig kuschelt sich das Neugeborene in die Arme der Eltern. Nachdem es sich satt getrunken hat, ist es zufrieden eingeschlummert. Anstatt den Säugling jedoch in sein Bettchen zu legen und sich auf dem Sofa zurückzulehnen, tragen ihn Vater und Mutter durch die Wohnung, klopfen ihm sanft auf den Rücken. Und warten. So lange, bis der ersehnte Rülpser kommt – wobei dieser liebevoll Bäuerchen genannt wird.

In der ersten Lebensphase wird unserer Verdauung viel Aufmerksamkeit geschenkt. Kein Wunder, hängt doch das Wohlbefinden des Kindes – und damit der Eltern – stark vom Schalten und Walten der kleinkindlichen Verdauungsorgane ab. Später im Leben kühlt sich die Beziehung zum Darm ab, wird intimer. Welch wichtige Rolle unser Bauch im Leben spielt, kommt nun vor allem in der Sprache zum Ausdruck: Wir haben Schiss oder Schmetterlinge im Bauch; unangenehme Ereignisse müssen wir verdauen, und Stress schlägt uns auf den Magen.

Organ der Superlative
Sieben Meter lang ist unser Darm, und weil die Darmwand nicht glatt ist, sondern über unzählige Ausbuchtungen verfügt, entspricht seine Oberfläche ungefähr einem Tennisplatz. Hier leben bis zu 30 Billionen Mikroorganismen. Das sind pro Kubikzentimeter Darminhalt mehr Bakterien, Viren und Pilze, als es Menschen gibt auf der Erde. Alle zusammen wiegen sie bis zu zwei Kilogramm – mehr als unser Gehirn.

«Im Anfang war der Darm.» So beginnt Gregor Hasler, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Freiburg, sein Buch «Die Darm-Hirn-Connection». Tatsächlich gibt es Hinweise, dass sich das Hirn in der Evolution aus dem Darmnervensystem entwickelte. Einerseits existiert es bereits in Insekten oder Schnecken, die noch kein Kopfhirn haben. Andererseits sind die Nervenzellen im Hirn und im Verdauungstrakt ganz ähnlich aufgebaut. Bis zu 500 Millionen von ihnen sitzen im Darmnervensystem, etwa so viele wie im Rückenmark. Sie machen den Darm zum einzigen Organ, das nicht vom Gehirn gesteuert wird. Dadurch kann er die Verdauung autonom regeln. Was einfach klingt, ist in Realität ein komplexer Vorgang. Der Darm muss den Nahrungsbrei analysieren, bevor er ihn Richtung Enddarm transportiert: Welche Darmbakterien tummeln sich im Verdauungstrakt und welche Stoffwechselprodukte stellen sie her? Welche Nährstoffe kann der Körper aufnehmen? Welche chemischen Stoffe sind giftig und wo schlummern Gefahren, die bekämpft werden müssen?

Die Welt verdauen
Ermittelt das Darmhirn relevante Informationen, leitet es diese über den Vagusnerv ans Gehirn weiter. Der Darm hat viel zu erzählen: 90 Prozent der Signale, die über diese Standleitung laufen, gehen vom Darm zum Hirn; nur 10 Prozent sendet das Hirn an den Darm. Er ist unser Fenster zur Welt – mehr als unsere Sinnesorgane. Die Augen können wir schliessen, Nase und Ohren zuhalten. «Der Darm ist der Welt voll ausgesetzt, er ist die Innenwelt der Aussenwelt», so Hasler. In den Ferien zum Beispiel verleibt man sich ein Land ein: Luft, Wasser, Essen. Der Darm sammelt die Informationen und leitet sie ans Hirn weiter, wo sie in ein Gefühl übersetzt werden. So beeinflusst er vielleicht sogar unsere Entscheidung, wo wir den nächsten Urlaub verbringen.

Die Kommunikation zwischen Darm und Hirn läuft unter anderem über Botenstoffe, die beide Organe erkennen und verarbeiten können. 30 solcher Stoffe entstehen im Darm. Das Glückshormon Serotonin beispielsweise kommt zu 95 Prozent aus dem Darm. Gerät die Produktion ins Stocken, kann das Schlafprobleme oder depressive Verstimmungen zur Folge haben.

Eine zentrale Funktion haben auch die Mikroorganismen im Darm. Die meisten der Bakterien tun Gutes für uns: Sie helfen, die Nahrung zu verarbeiten, und unterstützen das Immunsystem, das zu 70 Prozent im Darm angesiedelt ist. Möglicherweise geht ihr Einfluss noch viel weiter und sie prägen auch unsere Persönlichkeit. Darauf deutet eine Studie hin, in der Forscher zwei verschiedenen Mäusearten die Darmbakterien der jeweils anderen Art einsetzten. Die eine Mäuseart war scheu, die andere draufgängerisch. Nach der Stuhltransplantation mussten die Tiere als Mutprobe von einer erhöhten Plattform springen. Plötzlich waren die ehemals ängstlichen Mäuse mutiger und sprangen viel schneller als zuvor; die abenteuerlustigen Mäuse hingegen brauchten dreimal so lange, bis sie sich trauten.

Schlüssel zu neuen Therapien?
Die Zusammensetzung der Darmflora könnte ebenso ihre Finger im Spiel haben bei der Entstehung von Krankheiten. Nicht nur im Darm, sondern auch im Kopf: Angststörungen, Parkinson, Alzheimer oder Multiple Sklerose. Noch steht die Forschung hier am Anfang. «Die einen Mikroorganismen produzieren Substanzen, die im Gehirn wirken. Andere animieren die Darmschleimhaut, Stoffe herzustellen, die zum Beispiel stimmungsaufhellend oder entzündungshemmend wirken», erklärt die Ernährungsberaterin Beatrice Schilling aus Baden. «Allerdings geht es um Tausende von Keimen, deren Funktionen wir noch nicht kennen.» Ein weiterer Knackpunkt: Noch ist nicht klar, was als normale, gesunde Darmflora gilt. Jeder Mensch trägt seinen ganz eigenen Bakterienmix im Darm. Dieser bildet sich bereits in den ersten Lebensjahren und ist relativ stabil. Der Effekt einer Probiotika-Kur verpufft denn auch relativ rasch. «Zunehmend siedelt man die Keime, von denen man sich eine gute Wirkung erhofft, nicht mehr direkt an», sagt Schilling, «sondern stellt ihnen mit sogenannten Präbiotika Futter zur Verfügung, um sie zu stärken.»

Das geht am besten mit einer ausgewogenen, vielseitigen Ernährung. Eine alte Weisheit! «Mehr Gemüse zu essen, klingt langweilig, ist aber sehr effizient», so Schilling. «Vielen Leuten ist nicht bewusst, dass Ernährung nicht nur für die körperliche Gesundheit eine Rolle spielt, sondern auch für ihr psychisches Wohlbefinden.» Noch wichtiger als immer und überall die richtigen Nährstoffe ist möglicherweise das Drumherum, die Esskultur: eine entspannte Atmosphäre, Genuss und gute Gesellschaft zu Tisch. Wer auf seinen Bauch hört, weiss das wohl längst.


So pflegen Sie Darm, Gehirn und Gemüt

Wählen Sie hochwertige Lebensmittel.
Mit ihren guten Fetten, B-Vitaminen und wertvollen Nahrungsfasern sind Nüsse eine Wohltat für Darm und Hirn. Achten Sie auf hochwertige pflanzliche Öle, etwa Olivenöl. Essen Sie zudem lieber Fisch statt Fleisch. Und natürlich Obst und Gemüse, die über extrem viele Schutzstoffe verfügen. Besonders bei Gemüse ist mehr immer mehr!

Leben Sie bewusst und achtsam.
Massagen, Meditation oder Entspannungstechniken wie Yoga stärken den Vagusnerv und helfen gegen Stress. Dadurch bleibt dem Darm mehr Energie, um seiner Arbeit nachzugehen. Ausserdem leben die guten Darmbakterien lieber in einem entspannten Körper.

Geniessen Sie das Essen.
Gesund essen bedeutet auch, die Seele zu nähren und den Geist zu erquicken. Legen Sie deshalb Wert auf die Esskultur: Wer zusammen mit Freunden oder Familie kocht und isst, ernährt sich automatisch vielfältiger, gesünder und genussvoller.

Verändern Sie Ihre Ernährung clever.
Grosse Vorsätze überfordern oft, dabei führen auch kleine Schritte ans Ziel. Legen Sie den Fokus auf den Genuss und nicht auf den Verzicht. Also: Gemüse oder Salat als Beilage zum Lieblingsessen anstatt einen reinen Gemüseteller, auf den man keine Lust hat; einen Löffel weniger anstatt gar keinen Zucker mehr in den Kaffee.

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